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Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Wahnhaftigkeit

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Dies ist eigentlich der Versuch, mir selber über ein paar Vorkommnisse klar zu werden, deren Zeuge wir alle in den letzten Monaten wurden – der zunehmenden Verhärtung der Fronten, sei es in Bezug auf COVID-19 und die Impfung, sei es in Wahl- und Abstimmungskämpfen hier und andernorts. Da laufen im Moment gesellschaftliche Phänomene ab, die mich beunruhigen.

Da ich ursprünglich aus der philosophischen Ecke komme, ist es kein Zufall, wenn ich zuerst dort nach Erklärungsmodellen dafür geschaut habe.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Begriff der Wahrheit. Philosophisch gesehen, ist Wahrheit keine einfache Sache. Es gibt ungefähr ein halbes Dutzend Theorien, was Wahrheit sein könnte, und keine davon ist ohne Haken. Mich interessieren im Moment vor allem zwei. Da ist die so genannte Korrespondenztheorie:

1. Ein Satz ist wahr, wenn, was er aussagt, mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Wenn ich zum Beispiel sage: „Dies ist ein Pult“, werden wohl alle, die mich vor dem Computer sitzen sehen, sagen: „Ja, das ist wahr.“ Wenn ich sage: „Dies ist ein Sofa“, werden die Wohlwollenden vermuten, dass ich gerade eine Fremdsprache lerne, die andern werden mich für einen dreisten Lügner oder einen Verrückten anschauen. Denn wir wissen alle, wie ein Pult ausschaut und wie ein Sofa. Wir haben in unserem Kopf irgendwo und irgendwie ein Bild eines Pults, mit dem wir dieses real existierenden Pult hier vergleichen. Platon hätte gesagt: das ist die Idee eines Pults. Platon hätte sogar gesagt, dass die Idee des Pults die eigentliche Wahrheit ist, nicht dieses aktuelle Pult hier. Als echter Philosoph konnte es Platon dann nicht lassen und hat es kompliziert gemacht. Auch wenn wir von Wahrheit reden, reden wir nur von der Idee der Wahrheit. Hinter dieser Idee steht die eigentliche Wahrheit. Die Idee des Pults ist eine Wahrheit. Aber die Idee der Wahrheit ist das höchste Wahre. Nicht genug. Mit dem höchsten Wahren der Erkenntnistheorie vermischt Platon nun auch die Kategorie des Guten aus der Ethik und die Kategorie des Schönen aus der Ästhetik. Und wie es nach ihm ein höchstes Wahres gibt, gibt es auch ein höchstes Schönes und ein höchstes Gutes. Und diese drei sind eigentlich miteinander identisch: Das höchste Schöne ist das höchste Gute ist das höchste Wahre.

Das Konstrukt gefiel. Es gefiel zum Beispiel auch den christlichen Theologen des Mittelalters, die ihren Gottesbegriff darum herum konstruierten: Das höchste Schöne ist das höchste Gute ist das höchste Wahre ist Gott.

Mehr geht nicht. Wir lassen deshalb diesen Wahrheitsbegriff im Moment stehen und kommen zu einem zweiten, jüngeren. Er stammt in der heute noch verwendeten Form von der Frankfurter Schule und wurde in den 1970ern prominent vertreten durch Jürgen Habermas. (Der Mann ist unterdessen 98 Jahre alt und publiziert noch immer dicke Bücher!) Habermas’ Theorie nennt sich die Konsenstheorie und lautet kurz gesagt, dass Wahrheit immer eine Sache des Konsens einer bestimmten Gruppe ist, die in Diskussionen gewonnen wird, und die immer wieder in Frage gestellt wird.

2. Ein Satz ist wahr, wenn eine Gruppe sich darauf geeinigt hat, dass er wahr ist.

Diese zwei Wahrheitstheorien sind nun nicht nur Theorien. Man lebt sie auch praktisch, versucht das wenigstens. Dieser Versuch wird dem Menschen als Tugend ausgelegt und nennt sich Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit klingt in meinen Ohren immer nach einem Haften an der Wahrheit. Es gibt diese Geschichte, die man Kant zuschreibt, in der ein Mann vor der Tür seines Hauses steht, als plötzlich sein bester Freund angerannt kommt und darum bittet, sich im Haus verstecken zu dürfen, weil da einer hinter ihm her sei, der ihn umbringen wolle. Selbstverständlich stimmt der Mann zu und lässt den Freund hinein, bleibt aber selber draussen. Ein paar Minuten später kommt ein Fremder, Pistole in der Hand, und fragt, ob nicht der So-und-so gerade ins Haus unseres Mannes eingetreten sei. Er habe dies und jenes gemacht und nun wolle er ihn dafür töten. Was soll der Hausbesitzer antworten? Kants Antwort werden die wenigsten ohne Schlucken akzeptieren, denn Kant sagt ganz klar: Der Hausbesitzer muss die Wahrheit sagen. Kant redet sich dann heraus, dass der Freund ja unterdessen durch die Hintertür das Haus verlassen haben kann und wenn ich den Fremden wegschicke, dieser gerade deswegen den Freund auf der Strasse treffen und ihn töten könne. Aber man spürt Kants schlechtes Gewissen bei der Sache.

Mich interessiert hier vor allem der Umstand, dass ich die Wahrheit über alles andere zu stellen habe, auch über die Freundschaft und die Liebe. Natürlich: Wenn das höchste Wahre gleich Gott ist …

Kant argumentiert strikt im idealistischen Bannkreis, wo Wahrheit letzten Endes metaphysisch klar definiert ist. Doch der Alltag sieht anders aus, sah schon immer anders aus. Denn auch das höchste Wahre, Gott, wurde nur in langwierigen Streitereien, zum Teil um ein i-Tüpfelchen, gewonnen – in einer praktischen Anwendung der Konsenstheorie, lange bevor diese als Theorie formuliert war. Wobei diese Anwendung keineswegs so reibungslos funktioniert, wie es Habermas’ Theorie wahrhaben will. Was, wenn wir zwei Gruppen haben, die jede ihre Wahrheit gefunden hat? Und auf ihren Schlussfolgerungen beharrt? Die katholische Kirche kannte für solche Dissidenten nur eine Antwort: Kreuzzug und Scheiterhaufen.

Dahinter standen natürlich erst einmal Fragen von Macht und Geld. Aber auch ideologische Probleme. Die Konsequenz stammt zwar nicht von Platon, aber sie wurde sehr rasch gezogen: Wenn es ein höchstes Gutes gibt, dann muss es auch ein höchstes Schlechtes geben. Und wenn die Scholastiker das höchste Gute mit Gott identifiziert haben, muss auch das höchste Schlechte doch wohl eine Verkörperung kennen, oder? Den Teufel, wie wir ihn heute kennen, gab es in biblischen Zeiten noch gar nicht. Er wurde, teils von offizieller kirchlicher Seite, teils im Volk, im Laufe des 4. bis 6. Jahrhunderts entwickelt; ungefähr ab dem 7. Jahrhundert steht er dann so da, wie wir ihn heute kennen. Den letzten Schliff gab ihm dann John Milton in seiner Saga vom verlorenen Paradies.

Doch wer entscheidet nun, welche Seite in einem Disput tatsächlich die Wahrheit kennt? Irgendwann in einer Auseinandersetzung verschliessen sich die Synapsen und wir sehen und hören nur noch, was uns in unserer Ansicht bestärkt. Hier bin ich am unsichersten in meiner Gedankenkette, weil ich mich hier auf einem Gebiet bewege, das ich nur unzureichend kenne. Ich vermute, dass es zur genetischen Grundausstattung des Menschen gehört, sich irgendwann bedingungslos der eigenen Horde unterzuordnen. Eine Fähigkeit, die wohl fürs Überleben der Horde wie des Individuums unabdingbar war, wenn es darum ging, der eigenen Horde einen Teil der sowieso knappen Ressourcen an Nahrung und Wasser zu sichern. Verhandlungen waren für den Anfang eine gute Sache, denn jede kriegerische Auseinandersetzung barg das Risiko, dass die eigene Horde unterlag oder zumindest substanzielle Verluste erlitt, die ein Weiterbestehen selbst bei einem Sieg in Frage stellten. Aber von einem gewissen Punkt an gab es wohl keine andere Lösung mehr. Und wer schneller und effizienter zuschlug, war wohl im Vorteil.

Was wir heute sehen, stammt also meiner Meinung nach aus einer Mischung aus einer auf die Spitze getriebenen philosophischen Formulierung eines Mystikers von vor mehr als 2’500 Jahren, einer Weiterentwicklung pessimistischer christlicher Theologen im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, einer Markierung anderer Meinungen als Teufelszeug, und einer falsch verstandenen oder angewendeten Konsenstheorie. Habermas war nämlich auch in den 1970ern keineswegs der Meinung, dass jeder über alles diskutieren und den Wahrheitsgehalt einer Theorie mitbestimmen können – sein Konsens war immer der Konsens von Fachleuten. Erst die heutigen Medien, das Internet mit seinen verschiedensten Kanälen, wo jeder alles heraus trompeten kann, und man nicht mehr auf den ersten Blick erkennt, wer denn nun in Kenntnis der Dinge operiert und wer einfach schreibt bzw. nachschreibt, ohne sich in der Materie wirklich auszukennen – erst das moderne Internet macht es möglich, dem vermeintlichen Teufel im anderen mit Mord- und Vergewaltigungsphantasien zu begegnen.

Was wir dagegen halten können, ist eigentlich nur die gute alte aufklärerische Position des steten Hinterfragens. Nicht nur der Position der anderen (das auch), aber vor allem der eigenen Position. Solche Stimmen klingen zugegeben in der akuten Phase einer Entzündung nur schwach. Aber ich glaube immer noch an den steten Tropfen, der auch den Stein solcher Verblendungen höhlen kann.

So weit war ich gekommen und eigentlich recht stolz auf mein Elaborat. Dann habe ich es durchgelesen und es kamen erste Zweifel. Beim zweiten und dritten Durchlesen kamen noch mehr Zweifel.

Ist es wirklich so einfach? Sind all die kursierenden Verschwörungstheorien wirklich Varianten des Typs „religiöser Eifer“? Ist es wirklich möglich, Wissenschaft und Glauben auf derselben Ebene zu betrachten? Es gibt gläubige Wissenschaftler, aber die halten Wissen und Glauben, Wissenschaft und Religion auseinander. Kann es sein, dass ein Eifer, von dem man glaubte, dass er mit der Aufklärung ein Ende gefunden habe (oder dass er zumindest nur noch von Minderheiten vertreten und gefühlt werde), dass so ein religiöser Eifer wieder massentauglich geworden ist? Ich weiss es nicht.

Es gibt Booster-Impfungen

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Und ein neues Wort: “boostern”. Ich boostere, du boosterst etc. etc. etc. Gemeint sind Drittimpfungen gegen COVID-19. Aber mein Kanton geht da sehr bürokratisch vor. Es müssen mindestens 6 Monate seit der zweiten Impfung verstrichen sein, bevor eine/r Anrecht auf die dritte hat. Während links und rechts jede Menge so genannte “Impfdurchbrüche” stattfinden.

Und ich weiss gerade nicht, welche Seuche im Endeffekt schlimmer ist: COVID-19 oder die seltsamen Wortneuschöpfungen, die wir einer Politik verdanken, die planlos herumeiert. (Man verstehe mich richtig: Die Situation ist neu, unvorhergesehen, unvorhersehbar und absolut unplanbar. Aber man tue doch bitte nicht, als ob man alles im Griff habe. Hat man nicht. Kann man nicht haben.)

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Quarantäne – mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger

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Wir schimpfen im Moment alle über unsere PolitikerInnen. Den einen lockern sie zu schnell und zu viel – den anderen im Gegenteil zu wenig und / oder zu langsam. Letzten Endes aber kann man nur eine 100-prozentige Quarantäne aufbauen und aufrecht erhalten, wenn alle mitmachen. Und zu 100% frei von Corona werden nur Länder sein, die ihre Grenzen rigoros dicht machen. Das geht in (West-)Europa nirgends. Und so sehen wir, dass trozt relativer Freiheit die Zahlen in der Schweiz nicht schlechter sind, als in den rigoroser vorgehenden Nachbarländern. (Zugegeben: auch nicht besser.) Und einmal mehr zeigt sich so die linguistische Binsenwahrheit, dass der Komparativ immer relativ ist…

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D.T.

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Donald Trump führt zur Zeit den US-amerikanischen Staat so, wie jeder (US-amerikanische) CEO seine Firma führt. Und so lange die Politik in Form von Senat und Repräsentantenhaus ihm keinen Widerstand leistet, wird es so weiter gehen. Allerdings scheint sich jetzt so etwas wie eine ausserparlamentarische Opposition zu bilden. Erste, kleine juristische Erfolge zeigen sich. Die Frage ist, ob das anhält.

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